Street Fighter 6- Die Kleine Lokomotive, die es Nicht Schaffte

Blind_Adventurer
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Wahrscheinlich kennen alle Fans von Kampfspielen die „drei Säulen“, auf denen das Genre ruht: Mortal Kombat, Tekken und natürlich Street Fighter. Bei mir persönlich begann mit genau dieser Reihe die Bekanntschaft mit der Welt der Arena-Kämpfe, genauer gesagt mit einem Ableger, der auf dem Game Boy Advance erschien. Lange Zeit versuchte ich, mich in das Kampfsystem, die Kombos und verschiedenen Modi einzuarbeiten; das Spiel bereitete mir große Freude. Doch die Zeit verging, ich lernte nach und nach andere Vertreter des Genres in ihrer ganzen Pracht kennen, und irgendwann kam die Erkenntnis: SF ist eine Reihe mit einer sehr hohen Einstiegshürde, verglichen mit beispielsweise MK. 

Jahre später sah ich immer häufiger Informationen über die „revolutionäre“ Barrierefreiheit des sechsten Teils der berühmten Serie. Ich erinnerte mich an das ferne Jahr 2005 und die Stunden, die ich in irgendeinem besagten Ableger für den GBA verbracht hatte, und beschloss, dem modernsten Teil eine Chance zu geben. Leider hatte ich dann sehr, sehr gemischte Gefühle. Hat der sechste Straßenkämpfer einen Durchbruch im Bereich der Barrierefreiheit geschafft? Diese Frage ist schwer eindeutig zu beantworten. Betrachtet man die Street-Fighter-Reihe als Ganzes, ist es tatsächlich ein großer Schritt in Richtung besserer Zugänglichkeit. Vergleicht man die Barrierefreiheit jedoch beispielsweise mit Mortal Kombat 1, dann ist es Capcom kaum gelungen, seine Aufgabe zu erfüllen. Aber der Reihe nach.

Der erste Start

Also, das Spiel wurde bei Steam gekauft, heruntergeladen, und die Hand zuckt schon nach dem ersehnten „Play“-Button. Nach einer kurzen Ladezeit wird man vom ersten Setup-Menü begrüßt, ohne jede Spur eines vertonten Menüs.

Als Spieler mit viel Erfahrung gab ich die Hoffnung nicht so schnell auf und beschloss, die in NVDA integrierte OCR-Funktion zu nutzen. Die Erkennungsqualität lässt zwar zu wünschen übrig, aber viel umständlicher erwies sich der Punkt zur Sprachumschaltung. Dieser kann leicht versehentlich auf eine Sprache umgestellt werden, die sich nicht ordentlich erkennen lässt.

Nachdem ich mich durch das Einstellungsmenü gequält hatte, musste ich diverse Vereinbarungen bestätigen und – voilà – uns wird ein Intro-Video gezeigt, in dem sich die Charaktere hübsch animiert gegenseitig keine Ruhe gönnen. Nach dem Intro, das von einem ziemlich angenehmen, mitreißenden Soundtrack untermalt wird, landen wir auf einem Bildschirm, auf dem wir die Grundlagen des Kampfes absolvieren und ein Steuerungssystem auswählen sollen.

Gameplay und Barrierefreiheit

Street Fighter war schon immer für seine höchst komplexen Kombinationen berüchtigt, um verschiedene coole Moves oder Super-Angriffe auszuführen. Doch endlich hat Capcom im sechsten Teil einen Schritt in Richtung der eher Gelegenheitsspieler gemacht, die einfach nur jemandem ins Gesicht hauen wollen. Die Wahl zwischen drei Steuerungssystemen bietet große Freiheit beim Erlernen der Moves. Sehen wir uns die Optionen genauer an:

  • Classic – Die traditionelle Steuerung mit allen Schwierigkeiten bei der Ausführung von Moves. Geeignet für Veteranen der Serie.
  • Modern – Vereinfacht: Spezialangriffe werden mit nur einer Taste + Richtung ausgeführt. Ideal für diejenigen, die nicht mit komplexen Kombinationen zurechtkommen.
  • Dynamic – Die einfachste Variante, bei der das System automatisch bei der Auswahl der Angriffe hilft. Funktioniert nur in Offline-Modi und wird im kompetitiven Mehrspieler nicht verwendet.

Nach der Auswahl des Steuerungssystems werden uns die Grundlagen der Bewegung und der Kämpfe selbst beigebracht. Die Tutorial-Hinweise lassen sich recht gut erkennen; einzig die Tasten, die gedrückt werden sollen, werden nicht sonderlich gut erkannt. Doch das ist ein häufiges Phänomen in Spielen ohne Screenreader-Unterstützung, wenn man mit einem Gamepad spielt.

Nach dem Tutorial wurde ich endlich ins Hauptmenü gelassen, das aus mehreren Registerkarten besteht. Und hier wurde eine der „kreativen“ Ideen der Entwickler deutlich: Sie beschlossen, einige Menüpunkte mit fröhlichen Ausrufen der Spielmodi zu versehen. Anscheinend hat niemand den Accessibility-Managern gesagt, dass nach Mortal Kombat 11 bereits ein neuer Teil der Serie erschienen ist, in dem die Entwickler eine ausgezeichnete Bildschirmleser-Unterstützung implementiert haben – obwohl ich vermute, dass Konkurrenz in Sachen Barrierefreiheit das Letzte ist, was Capcom heute umtreibt. Aber, wie man so schön sagt, besser als nichts.

Irgendwann beschloss ich, einen sehenden Freund um Hilfe zu bitten, um schnell die Einstellungen nach den „revolutionären“ Barrierefreiheitsfunktionen zu durchsuchen, von denen während der Marketingkampagne so viel die Rede war. Ich war nicht gerade angenehm überrascht, dass die speziellen Einstellungen nicht einmal in einem separaten Menü gruppiert waren. Wir mussten alle Registerkarten durchforsten, um überhaupt etwas Interessantes zu finden, und das Ergebnis war leider ziemlich enttäuschend. 

Alles, was wir finden konnten, war die akustische Ausgabe der Distanz zum Gegner (ein System, das MK1 sehr ähnlich ist), eine flexible Anpassung verschiedener Audio-Parameter (ein Pluspunkt), ein Audio-Hinweis für die Arena, in der der Kampf beginnt, und eine akustische Unterscheidung, ob man den Kampf von der linken oder rechten Seite beginnt.

Erwähnenswert sind auch die Audio-Hinweise für Angriffsarten, das Füllen der Super-Move-Leiste und andere Kampfstatus. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass an der Kampfkomponente wirklich exzellent gearbeitet wurde. Doch wenn alles nur so einfach wäre.

Was braucht man scheinbar noch für ein großartiges Spielerlebnis? Der Kampf ist doch der Kern des gesamten Projekts. Doch die Entwickler haben blinde Spieler um die Möglichkeit gebracht, den Story-Modus zu genießen – und das ist ein sehr gewichtiger Teil des Inhalts, der es einem erlaubt, das Universum kennenzulernen und die Kampfbasics auf äußerst fesselnde Weise zu erlernen.

Spielmodi

Street Fighter 6 unterscheidet sich von seinen Vorgängern durch seinen größeren Umfang: Es ist nicht mehr nur eine arcade-artige Sammlung von Kämpfen, sondern eine ganze Reihe von Modi mit eigenen Bedingungen.

Fighting Ground — Die Klassiker. Das ist das Herz des Spiels, das, was man als „traditionellen Street Fighter“ bezeichnen kann. Zum Fighting Ground gehören:

  • Arcade —  Eine Reihe von Kämpfen gegen die KI wie in den alten Teilen;
  • Versus — Lokale Duelle gegen Freunde oder den Computer;
  • Training — Ein Modus, um Schläge und Kombinationen zu üben;
  • Ranked Match und Casual Match — Online-Kämpfe gegen Spieler aus der ganzen Welt;
  • Team Battle — Ein Format für Teamkämpfe, bei dem mehrere Charaktere abwechselnd kämpfen;
  • Extreme Battle — Spaßige Duelle mit ungewöhnlichen Regeln: Fallen auf der Arena, zusätzliche Siegbedingungen usw.

Für blinde Spieler ist der Fighting Ground der zugänglichste Teil. Alles, was mit dem Kampf selbst zu tun hat, wird über Audio-Indikatoren vermittelt: Man hört die Distanz, die Richtung der Angriffe, die Art des Schlags. Hier lässt das Spiel einen tatsächlich fühlen, wie man ein vollwertiger Teil des Geschehens ist.

Battle Hub — Das soziale Zentrum. Battle Hub ist eine Online-Lobby, in der man:

  • andere Spieler treffen,
  • an Turnieren teilnehmen,
  • die Kämpfe anderer ansehen,
  • Charaktere anpassen,
  • und sogar klassische Capcom-Arcade-Spiele wie Final Fight an Spielautomaten spielen kann.

Für Sehende ist dies ein Raum im Stil einer „virtuellen Arcade-Halle“. Für Blinde ist es eine Herausforderung: Die Oberflächen sind nicht vertont, die Orientierung im 3D-Raum ist schwierig, es gibt keine Screenreader-Unterstützung. Aber wenn man es in das richtige Menü schafft, kann man sich einem Online-Kampf anschließen. 

Theoretisch also spielbar, praktisch aber ohne die Hilfe einer sehenden Person oder den Einsatz von OCR nur schwer machbar. Für den Zugang zur Lobby ist zudem die Verknüpfung mit einem Capcom-Konto erforderlich, was wiederum ohne Hilfe nur schwer zu bewältigen war.

World Tour – Der Story-Modus (für blinde Spieler unzugänglich), eine umfangreiche Einzelspieler-Kampagne, in der der Spieler seinen eigenen Helden erschafft, Städte erkundet, Aufträge erledigt, auf Meister trifft und ihre Moves lernt. Dieser Modus ist eine Mischung aus RPG und Kampfspiel.

Für sehende Spieler ist dies eine der Hauptneuheiten: Handlung, Quests, eine offene Welt. Für blinde Spieler ist es ein komplett unzugänglicher Bereich. Die Hauptprobleme:

  • Dialoge ohne Sprachausgabe und ohne adaptierte Untertitel,
  • Navigation, die auf visuelle Karten angewiesen ist,
  • Oberflächen ohne Screenreader-Unterstützung.

In der Folge bleibt der gesamte Modus, der als großer Teil des Spiels beworben wird, für einen blinden Spieler ein „schwarzer Bildschirm“.

Sounddesign

Street Fighter 6 überrascht damit, wie akribisch die Soundeffekte umgesetzt sind. Die Aufgabe der Entwickler war es nicht nur, die Wucht eines Schlags zu vermitteln, sondern ein System aus akustischen Orientierungspunkten zu schaffen, das das Sehvermögen ersetzt.

  • Schläge und Bewegungen

Jede Art von Schlag — leicht, mittel, schwer — klingt unterschiedlich. Leichte Schläge sind hell und schnell, schwere haben ein dumpfes Bassfundament; man spürt das Gewicht hinter jedem Treffer. Sprünge werden von kurzen Soundakzenten begleitet, und Spezialangriffe haben unverwechselbare akustische Markierungen. 

  • Drive-System

Die wichtigste Neuerung im sechsten Teil ist das Drive-System. Drive Impact, Drive Parry und Overdrive-Angriffe haben ihre eigenen einzigartigen Audio-Effekte. Dadurch versteht ein blinder Spieler, was vor sich geht, und kann entsprechend reagieren.

  • Räumlicher Sound

Es wird eine klare Stereopanorama genutzt: ob der Gegner links oder rechts ist, hört man sehr deutlich. Dies hilft, sich in Echtzeit zu orientieren und ersetzt den visuellen Kontakt.

  • Umgebung

Die Arenen sind lebendig: Man hört die Menschenmenge, Straßengeräusche, Technik und Musik. Die Geräusche der Schauplätze schaffen Atmosphäre, stören aber den Kampf nicht — sie sind gekonnt in den Hintergrund gemischt, um die wichtigen Audio-Indikatoren nicht zu übertönen.

  • Soundtrack

Die Musik unterscheidet sich von der der Vorgänger. Capcom ließ sich eindeutig von Street Culture und der modernen Hip-Hop-Szene inspirieren.

  • Hauptthema und Stil

Der Soundtrack ist eine Mischung aus Rap, Hip-Hop, elektronischer Musik und prägnanten Beats. Er setzt einen energiegeladenen Rhythmus, der das „coole“, urbane Image des Spiels unterstreicht.

  • Charakterthemen Jeder Kämpfer hat seinen eigenen Track, der seinen Charakter widerspiegelt. Zum Beispiel:
    • Bei Jamie hört man clubtaugliche Elektro-Beats;
    • Bei Luke gibt es dynamischen Hip-Hop;
    • Bei alten Helden wie Ryu oder Chun-Li erinnert die Musik stärker an die klassischen Versionen, aber in modernem Gewand.

Für Sehende ist das eine Hommage an die Tradition, für Blinde eine Möglichkeit, allein an der Musik zu erkennen, wer ihnen gegenübersteht.

  • Musik in den Modi:
    • Im World Tour-Modus gibt es lange Hintergrundtracks, die an RPG-Musik erinnern;
    • Im Battle Hub läuft ein entspannter, aber moderner Elektro-Sound, ähnlich wie in einem Club oder einer Lounge;
    • In den Kämpfen selbst sind helle, aggressive Kompositionen, bei denen jeder Track rhythmisch mitreißend ist und eine Atmosphäre angespannter Duelle schafft.

Fazit

Nachdem die wichtigsten Aspekte der Barrierefreiheit des Projekts analysiert wurden, ist es an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Als erfahrener blinder Spieler, der verschiedene inoffizielle Lösungen nutzt, um sogenannte „Krücken“ zu finden, die in den unterschiedlichsten Spielen helfen, kann ich sagen: SF 6 macht einen großen Schritt nach vorn in puncto Barrierefreiheit — wenn man lange, lange Zeit investiert, um zu verstehen, wie alles hier funktioniert, und sehr viele Menüregisterkarten auswendig lernt, um nicht ständig auf Erkennungshilfen angewiesen zu sein. Aber als blinder Casual-Spieler, der an die Zugänglichkeit von Videospielen auf dem Niveau von The Last of Us oder an Audiospiele gewöhnt ist, bei denen alles vollständig zugänglich ist und man nicht großartig nachdenken muss, kann ich Street Fighter definitiv nicht zum Kauf empfehlen.

Stärken des Spiels:

  • Vollständig durchdachte Audio-Indikatoren für Entfernung und Schläge.
  • Räumlicher Sound: Einfach zu bestimmen, wo sich der Gegner befindet.
  • Eindeutige Audiosignale für das Drive-System und Combos.
  • Akustische Anzeige der Gesundheit und der Drive-Gauge.
  • Möglichkeit, die Lautstärke einzelner Effekte anzupassen.
  • Verschiedene Steuerungsschemata (Classic, Modern, Dynamic), die das Gameplay vereinfachen.
  • Vollwertige Möglichkeit, Online-Matches zu spielen und zu trainieren — ohne visuelle Wahrnehmung.

Schwächen des Spiels:

  • Völliges Fehlen einer Screenreader-Unterstützung in den Menüs.
  • Der World-Tour-Modus ist für blinde Spieler komplett unzugänglich.
  • Battle Hub erfordert Hilfe einer sehenden Person zur Navigation.
  • Unmöglichkeit, mit den meisten Oberflächen außerhalb des Kampfes zu interagieren, ohne OCR oder einen sehenden Assistenten.

Abschluss

Street Fighter 6 ist ein weiterer Schritt nach vorn für das gesamte Kampfspiel-Genre und eine wichtige Erfahrung für Spieler mit Behinderungen. Capcom ist ein Risiko eingegangen und in ein so großes Projekt vollwertige akustische Hilfen integriert. Für einen blinden Spieler ist dies eine Revolution innerhalb der Street-Fighter-Reihe: Der Kampf wird zugänglich, dynamisch und fair. Dank Audio-Indikatoren für die Entfernung, unterschiedlicher Signale für Schläge und einer klaren Stereobildgebung kann man nicht nur teilnehmen, sondern tatsächlich konkurrieren – sowohl in lokalen Matches als auch online..

Gleichzeitig ist es jedoch ein halbherziger Schritt. Die Spielmenüs bleiben für Bildschirmleseprogramme stumm. Der Story-Modus „World Tour“, auf den die Entwickler gesetzt haben, bleibt hinter einer unüberwindbaren Mauer verschlossen. Der Battle Hub existiert, aber ohne die Hilfe einer sehenden Person ist er extrem schwierig zu nutzen. Es entsteht ein Paradoxon: Die Kampfmechanik selbst ist zu einem Beispiel für Inklusivität geworden, während die Interaktion mit der Benutzeroberfläche zu einer eher unangenehmen Erfahrung wird. Leider ist es ein häufiger Trend, dass sogenannte Barrierefreiheit sehr unachtsam gegenüber vollständig blinden Spieler umgesetzt wird. In einigen Spielen gibt es eine ausgezeichnete Screenreader-Unterstützung, aber man vergisst völlig, navigatorische Möglichkeiten zu implementieren.

Sounddesign und Musik funktionieren einwandfrei: Sie schaffen nicht nur Atmosphäre, sondern werden Teil der Benutzeroberfläche. Für blinde Spieler ist dies eine der besten Klangerfahrungen im Genre. Dennoch bleibt ein Gefühl der Unvollständigkeit. Denn wenn der Kampf für alle zugänglich ist, warum bleibt die Geschichte ein Privileg für Sehende?

So betrachtet steht Street Fighter 6 an der Grenze zwischen Sieg und Niederlage. Einerseits ist es ein echter Durchbruch, der blinden Spielern erstmals ermöglicht hat, in die Arena zu treten und Gleichberechtigung zu erfahren. Andererseits sind es die verpassten Chancen, die die Barrierefreiheit letztlich etwas mangelhaft erscheinen lassen. Capcom hat bewiesen, dass sie die Tür öffnen kann, aber vorerst hat sie sie nur einen Spaltbreit offen gelassen.

Und wenn man das Gesamtbild betrachtet: Street Fighter 6 ist eine Herausforderung für die gesamte Branche. Wenn ein Kampfspiel dieses Kalibers den Kampf hörbar machen konnte, dann muss der nächste Schritt sein, dass auch die Menüs und die Geschichte eine würdige Anpassung für alle Spieler erhalten

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