Sabriye Tenberken oder: Das Licht Entdecken

LeRenard
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Eltern und Ängste

Kinder verstehen die Ängste ihrer Eltern nicht. Wenn sie Rad fahren, auf Dächer klettern oder zur Schlittschuhbahn gehen, glauben sie, dass ihnen nichts passieren wird. Dafür sind Eltern ja da — um sich zu sorgen; das ist ihre Pflicht. Doch die Angst der Eltern ist nicht unbegründet; sie ist oft berechtigt. Die kindliche, besonders die jugendliche Überzeugung, unverwundbar zu sein, ist grenzenlos.  

Wahrscheinlich dachte Sabriye Tenberken, ein Schulmädchen aus Köln, auch nicht daran, als sie auf die Schlittschuhbahn ging. Doch genau dort geschah ein Unfall, dessen Folgen ihr Leben verändern sollten. Sabriye begann langsam, aber stetig ihr Augenlicht zu verlieren. Ihre Welt verblasste erst und versank dann in undurchdringliche Dunkelheit. Ihre bestürzten und traurigen Eltern taten alles, was sie für ihre Tochter tun konnten.

Sie gaben nicht auf und taten alles in ihrer Macht Stehende. Die Eltern schafften es, ihrer Tochter die Welt zu zeigen, bevor sie ihr Augenlicht vollständig verlor. Sie erreichten, dass ihre Tochter in die Schule des Deutschen Blindeninstituts in Marburg aufgenommen wurde – einer angesehenen Einrichtung, die während des Ersten Weltkriegs gegründet worden war. Nach dem Schulabschluss begann Sabriye ein Universitätsstudium.

Sabriye immatrikulierte sich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für ein Studium der Philosophie, wobei eine ihrer Spezialisierungen Tibetologie wurde. Zu diesem Zeitpunkt verstand Sabriye, dass der Satz „Die Farbe Schwarz ist wunderschön“ ihrer Stimmung und Überzeugung entsprach. Nachdem sie am eigenen Leib erfahren hatte, was Diskriminierung für Blinde bedeutet, beschloss Sabriye, etwas zu tun, um denen zu helfen, deren Situation bezüglich Sehvermögen und Bildungsmöglichkeiten weitaus schlechter war als ihre eigene. 

Sie, wie man im 19. Jahrhundert sagte, „richtete ihren Blick auf den Osten“, auf Tibet. Wie stellen sich die meisten von uns Tibet vor? 

Aus geografischer Sicht ist Tibet eine gewaltige Ausdehnung im Herzen des asiatischen Kontinents, über die selbst heute nur sehr wenig bekannt ist, und das, was wir zu wissen glauben, ist von Mythen umwoben. Für die meisten von uns ist Tibet ein geheimnisvolles Hochgebirgsland, das Zentrum des Buddhismus. In der tibetischen Hauptstadt Lhasa befindet sich die Residenz des Dalai Lama; die Menschen leben in den Bergen unter harten, fast primitiven Bedingungen. Man spricht dort eine kaum verständliche, ja eine für den  „privilegierten Teil der Weltbevölkerung“ völlig unverständliche Sprache. Aus der jüngeren Geschichte Tibets ist hauptsächlich bekannt, dass es von China erobert wurde, das das Land und sein soziales Leben streng regiert.

Die Wendung nach Osten

Die Arbeit in Tibet war schon immer schwierig: das Misstrauen der Behörden, die Zurückhaltung der einheimischen Bevölkerung, Vorurteile und Aberglaube. Die Diskriminierung aufgrund von Behinderung, die sich besonders in der sozialen Isolation Blinder zeigte, denen sich manchmal sogar die eigenen Eltern grausam verweigerten. Umso bedeutungsvoller ist die Tat von Sabriye Tenberken, die davon überzeugt war, dass ein freies Tibet ohne Bildungszugang für alle, und insbesondere für blinde und sehbehinderte Kinder, unmöglich sei. 1997 reiste sie nach Lhasa und überwand Schritt für Schritt staatliches Misstrauen und soziale Mythen, um blinden Kindern nicht nur eine Schulbildung zu ermöglichen, sondern dies auch in ihrer vertrauten Sprache zu tun.

Noch bevor Sabriye Tenberken die Schule abschloss, hatte sie ihr Augenlicht vollständig verloren. Die Wahl der philosophischen Fakultät der Universität Bonn für ihr weiteres Studium war nicht überraschend. Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität bot ihren Studierenden trotz ihres zwiespältigen Rufes eine ausgezeichnete und vielseitige Ausbildung. Überraschend war etwas anderes: Sabriye wollte nicht nur Philosophie und Soziologie, sondern auch Tibetologie studieren. Gewiss könnte man sich fragen, warum eine junge Frau aus Deutschland, die ihr Augenlicht vollständig verloren hatte, beschloss, das Leben in einem Land zu studieren, in dem selbst Sehende es nicht leicht haben. Warum wählte sie Tibet, mit seinem Hochgebirgsklima und den schwierigsten Lebensbedingungen, ganz zu schweigen vom Fehlen gewohnter Annehmlichkeiten? Was könnte eine junge blinde Frau aus Deutschland mit dieser Hochgebirgsregion verbinden?

Hinter Sabriye Tenberkens Wahl stand kein akademisches Interesse, sondern eine innere Überzeugung, das Verständnis, dass dies ihre Bestimmung sei. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sabriye bereits am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, eine unsichtbare und doch für Menschen wie sie deutlich spürbare Mauer zu überwinden. Sie wusste, wie verletzend und manchmal demütigend für einen blinden oder fast erblindeten Menschen die Worte anderer sein können: “Versuch das besser erst gar nicht.” 

Licht entdecken

Doch je mehr sie über Tibet erfährt, desto klarer wird: Menschen mit Behinderungen sind vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, und es wird praktisch nichts für blinde Kinder getan. In Tibet stehen diese Kinder nicht nur außerhalb des Bildungssystems, sie sind aus jedem System ausgeklammert — selbst aus dem familiären. Die Gesellschaft begegnet ihnen mit Mitleid oder Angst. Oft werden blinde Kinder als „verflucht“ angesehen, man hält sie auf Distanz und versteckt sie vor fremden Blicken. Schon die bloße Geburt eines blinden Kindes kann als Schande für die Familie empfunden werden.

All dies erschüttert Sabriye zutiefst. Und sie beschließt, dass sie nicht als Touristin oder Wissenschaftlerin nach Tibet reisen will, sondern als Mensch, der die Situation verändern kann — zumindest für einige Kinder.

Sabriye kommt in Lhasa an, wo sie auf eine Realität trifft, die weit von romantischen Vorstellungen entfernt ist. Die lokalen Behörden begegnen ihr misstrauisch, als Ausländerin steht sie unter Beobachtung, die Einheimischen sind zurückhaltend. Für Tibeter bedeutet Blindheit etwas Beängstigendes, das mit dem vorherigen Karma verbunden ist. Sabriye spürt das sofort: Menschen meiden Berührungen, scheuen Fragen. Waisenkinder und Kinder mit Behinderungen leben oft isoliert, ohne jede Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben.

Was tut man in einer solchen Situation? Wo fängt man an? Nicht den Mut verlieren – das war Sabriyes Entscheidung. Und sie begann mit dem Einfachsten: Sie ging durch die Straßen, hörte den Gesprächen zu, sprach mit Menschen und erkundigte sich nach ihrem Leben. Sabriyes gewählte Strategie führte, wenn auch nicht sofort, zum Erfolg. Es gelang ihr, Helfer zu finden und jemanden zu treffen, der zum Mitstreiter und loyalen Freund wurde: den niederländischen Ingenieur Paul Kronenberg.

Gemeinsam eröffneten Sabriye und Paul die erste Schule für blinde Kinder und gründeten eine Stiftung zur Entwicklung einer Brailleschrift für die tibetische Sprache, die sie “Braille Without Order” nannten. Über die Stiftung und ihre Arbeit lesen Sie in unserer nächsten Veröffentlichung.

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